Nina allein zu Haus?

Nein! Nina, meine 2jährige Enkelin war nicht allein zu Haus. Ich hatte

das große Vergnügen, sie einmal allein an einem Vormittag zu bemuttern.

Diese Gelegenheit  nahm ich als begeisterter Fotograf beim Schopf, um mit

einer geliehenen  Filmkamera meine Enkelin zu filmen. Ein Film sollte

meinen Bildern Beine machen und das Laufen lernen. Nina schaute eine Zeitlang

meinem Tun scheinbar begeistert zu. Schon bald aber  legte sich ihre 

Begeisterung, sie weinte fürchterlich laut und schluchzte steinerweichend.

Dicke Tränen liefen über ihr Gesicht.

Mein erster Reflex, das Kind zu trösten, wurde  jäh durch eine alte

Geschichte gestoppt, die mir durch den Kopf schoss.

Es ist die  Geschichte eines  amerikanischen Fotografen.  Dieser Fotograf

hatte am 8. Dezember 1980 einen Fototermin mit dem Sänger und

Gitarristen John Lennon von der ehemaligen britischen Rockband The

Beatles. Als er sich zu Fuß Lennons New Yorker Wohnung näherte, waren

viele Menschen auf der Straße; er kam kaum noch durch die

Menge. Die Leute sprachen sehr aufgeregt und hatten Tränen in den

Augen. Der Fotograf erfuhr, dass an diesem Vormittag John Lennon in der

Nähe seiner Wohnung auf offener Straße erschossen wurde. Über diese

Nachricht war er ebenso betroffen wie all die anderen und konnte es nicht

fassen. Der Schock lähmte ihn, er war außerstande  Fotos  von dem

Ereignis zu schießen. Monate später wurde er sich bewusst, von diesem 

8. Dezember gibt es nicht ein einziges Foto.

Da begriff er, als Fotograf hatte er einen schlechten Job gemacht.

Diese Geschichte schoss in Bruchteilen von Sekunden durch meinen Kopf

und ich filmte trotz Ninas Tränen schweren Herzens weiter.

Nach ein paar Minuten beendete ich meinen Dreh, nahm Nina in den Arm,

wischt ihre Tränen ab und tröstete sie. Tage danach  wurde der Film

geschnitten und auf CD gebrannt.

Viele Jahre später rief mich meine Tochter eines Tages an und sagte:

„Papa, du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist. Nina sitzt fast jeden 2.

Tag mit Ihren Freundinnen bei uns vor dem Fernseher. Sie schauen sich

die alte Kinder-CD an, wo Nina so fürchterlich weint. Die Mädchen haben

einen Riesen-Spaß. Sie  kreischen und lachen  sich halbtot.

Es ist fürchterlich laut hier, dicke Tränen laufen über die Gesichter der

Mädchen.“

Da begriff ich, als Fotograf  hatte ich einen guten Job gemacht.

Comments

Hallo Hans!

Mit großer Freude habe ich erneut deine Geschichte gelesen: Unterhaltsam, rührend, schön geschrieben :-)

Ich hoffe auf weitere Meisterwerke dieser Art ;-)

 

Liebe Grüße!

Bettina

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