Das Wunder von Bern!

Bericht eines 11-jährigen Jungen

Die Weltmeisterschaft 1954 ist für Fußball-Fans ein Zeitenwechsel. Deutschland steigt mit dem Sieg in Bern aus der Zweitklassigkeit auf in den Olymp des Fußballs. Deutschland ist WER. Das Wunder von Bern!

Das Endspiel  Deutschland gegen Ungarn am 4. Juli 1954 in Bern wird im Fernsehen übertragen. Mein Vater  hat für sich und mich in der einzigen Gaststätte in der Nähe mit einem Fernseh-Gerät  2 Plätze reserviert. Bevor wir losgehen, ermahnt mich meine ältere Schwester, mich zu waschen, damit ich anständig aussehe. Schnell ins Bad ein bisschen Wasser  auf Gesicht und Hände. Danach Wasserhahn zudrehen nicht vergessen. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, die Wassertropfen tropfen weiter. Wie immer. Mein Vater ruft schon. Ich renne los und wische schnell  die nassen Hände an meiner Hose ab. Mein Vater nimmt mich bei der Hand, wir gehen los.

Im Saal der Gaststätte steht ein winziger Fernsehapparat mit einem Bildschirm in Laptop-Größe und einem pixeligen Bild in schwarz/weiß. Es gibt nur Männer  im Raum und schnell sind alle reihenweise aufgestellten Stühle besetzt. Der Geräuschpegel wird mit der Zeit immer lauter. Die Gespräche drehen sich nur um ein Thema: Wer wird Weltmeister? Die Mehrheit ist skeptisch und glaubt nicht an einen deutschen Sieg. Ein Teil ist voller Hoffnung. Heute wissen wir, die Hoffnung stirbt zuletzt.

Endlich beginnt das Spiel. Immer wieder  springen alle auf, schreien und brüllen durcheinander. Die Männer,  alle größer als ich, verstellen mir die Sicht auf das Spiel im Fernsehen. Also schnell rauf auf den Stuhl, bei Ruhe wieder runter. Die ganze Zeit über wechselt das Szenarium zwischen Mäuschen-Stille und Höllen-Lärm, zwischen sitzen und rauf auf den Stuhl. Die Männer und auch ich, alle  haben vor Aufregung rote Gesichter. Der Cocktail aus Hochspannung, Dramatik und Nervenkitzel ist  körperlich spürbar. Dann endlich  erlöst uns Helmut Rahn mit seinem Tor zum 3:2 Endstand. Das Spiel ist aus, die Sensation perfekt. Deutschland ist Weltmeister.  Alle sind aus dem Häuschen. Wir haben das Wunder von Bern live im Fernsehen miterlebt.

In meiner Euphorie glaube ich, durch den Sieg hat sich Deutschland verändert, ist anders geworden.  Nachdem sich unser Pulsschlag beruhigt hat, geht es nach Hause. Draußen auf der  Straße erwarte ich eine andere Welt zu sehen. Alles größer, schöner, strahlender.  Aber ich traue  meinen Augen nicht. Nichts hat sich verändert, alles ist noch so wie vor dem Spiel. Ich bin sehr enttäuscht und kann es nicht begreifen. Deutschland  ist doch Weltmeister? Schweigend gehen wir weiter. Zu Hause meckert meine Schwester wieder über meine schmutzigen Hände. Ich muss sowieso zur Toilette  und mein erster Blick fällt auf den Wasserhahn.

Alles wie vorher, die Wassertropfen tropfen weiter.

Das Wunder von Bern?

Comments
CAPTCHA
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.